Tausende von Diakonissen waren im sozialen Dienst tätig, etwa in der Pflege von alten und kranken Menschen.
© Fliedner-Kulturstiftung Kaiserswerth

Evangelische Theologie Ein blinder Fleck in der Kirchengeschichte

Frauen haben im Protestantismus vieles geleistet. Trotzdem wird die Kirchengeschichte bislang von Männern dominiert. Eine Bochumer Forscherin arbeitet seit 27 Jahren daran, den Blick zu weiten.

Ein schlichtes dunkles Gewand, ein weißer Kragen und eine weiße Haube. An dieser Tracht erkannte man die Diakonissen. Frauen evangelischen Glaubens, die ein Leben voller Hingabe für andere Menschen führten, freiwillig ehelos blieben, einfach lebten und in einer Schwesternschaft sozialen Diensten nachgingen. Obwohl sie viel für die Gemeinschaft leisteten, standen sie nie im Rampenlicht der Kirchengeschichte – wie viele andere Frauen.

„Eigentlich sind Frauen in der Geschichte immer marginalisiert worden – nicht nur in der Theologie“, sagt Prof. Dr. Ute Gause. Sie forscht in der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum und ist seit 27 Jahren auf der Suche nach Frauen in der Kirchengeschichte. Dabei stieß sie unter anderem auf die Diakonissen, von denen es im 19. Jahrhundert Tausende gab. „In etablierten kirchengeschichtlichen Darstellungen kommen sie trotzdem nicht vor“, weiß Gause. Um die Leistung dieser Frauen sichtbar zu machen, startete sie ein Forschungsprojekt, in dem sie die Lebensläufe einzelner Diakonissen beispielhaft vorstellte.

Ein Leben für die Gemeinschaft

Ute Gause forschte ausgiebig zur ersten Vorsteherin der westfälischen Diakonissenanstalt Emilie Heuser, die von 1822 bis 1898 lebte. 1869 eröffnete die Kaiserswerther Diakonisse mit zwei Mitschwestern ein kleines Haus in Bielefeld, in dem sie kranke Menschen aufnahmen und versorgten – in einer Zeit, in der es kein funktionierendes Pflegesystem gab. Anfang des 20. Jahrhunderts war daraus das Diakonissenhaus Sarepta mit über 2.000 Schwestern geworden, die unter anderem in Bethel ein Waisenhaus und eine Spezialklinik für Menschen mit Epilepsie versorgten sowie Gemeindeschwesterndienst und Kinderbetreuung in den sogenannten Kleinkinderschulen im Ruhrgebiet und in Westfalen leisteten.

Die Diakonissen haben alles getan, um Elend zu vermeiden.


Ute Gause

„Die Diakonissen haben alles getan, um Elend zu vermeiden“, erzählt Ute Gause. „Wenn morgens ein Mann vor der Tür stand, um ein Baby abzugeben, das er nicht mehr großziehen konnte, weil seine Frau verstorben war, nahmen sie es auf – so war ihr Alltag.“

Aufstiegschancen und Sühne

Anhand anderer Biografien zeigt die Bochumer Forscherin auf, dass Frauen aus einfachen Verhältnissen, die nicht heiraten konnten oder wollten, durch den sozialen Dienst in der Diakonie auch Aufstiegschancen hatten. „Sie bekamen eine Ausbildung, qualifizierte Arbeit und Anerkennung“, sagt Ute Gause. Ihr Dienst wurde zwar nur mit einem Taschengeld entlohnt. Dafür waren die Diakonissen auch in Krankheit und Alter stets in der Schwesternschaft versorgt – im 19. Jahrhundert keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Ledige und verwitwete Frauen standen oft mittellos da und hatten kaum Möglichkeiten einer qualifizierten Berufsausbildung und -ausübung.

Ute Gause leitet an der Ruhr-Universität den Lehrstuhl für Kirchengeschichte.
© RUB, Marquard

Es gab aber auch andere Motive, in die Diakonie einzutreten. Ute Gause erforschte beispielsweise die promovierte Psychologin Liese Hoefer (1920–2009), die begeisterte Nationalsozialistin gewesen war und den Diakonissen-Dienst als Sühne betrachtete.

Das waren emanzipierte, starke Frauen, die als Multiplikatorinnen des christlichen Glaubens wirkten.


Ute Gause

„Die Geschichten und Biographien haben mich fasziniert“, sagt Gause mit Rückblick auf das Projekt. „Das waren emanzipierte, starke Frauen, die als Multiplikatorinnen des christlichen Glaubens wirkten.“ Die Diakonissen versahen ihren Dienst aus der Überzeugung ihres Glaubens heraus. Sie betreuten Arme, Kranke und Kinder in den Gemeinden des Ruhrgebiets, in denen sich die Menschen weitgehend von der Kirche abgewandt hatten. So wirkten sie dem Glaubwürdigkeitsverlust der Kirche entgegen.

In den 1970er-Jahren brach dieses Modell jedoch zusammen. Frauen hatten nun andere Chancen, sich beruflich zu verwirklichen, konnten außerdem Beruf und Familie besser in Einklang bringen, sodass viele nicht mehr ehelos leben wollten. Zwei Bücher und zahllose Aufsätze hat Ute Gause zu Diakonissen veröffentlicht. „Die letzten noch lebenden Diakonissen sind mittlerweile hochbetagt“, sagt die Forscherin. „Es wird also keine weiteren Bände geben.“

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„Meine Forschung ist nicht Mainstream“

Frau Professorin Gause, die Theologie ist klassischerweise eine Männerdomäne. Wie ist es für Sie, in diesem Bereich zu forschen?
An der Ruhr-Universität Bochum sind die Professuren in der evangelischen Theologie 50:50 zwischen Frauen und Männern verteilt. Aber das ist längst nicht an allen Universitäten so. Auf Konferenzen sind Frauen immer in der Minderheit. Wenn ich bedenke, dass ich jetzt schon ein gutes Vierteljahrhundert in diesem Bereich forsche, muss ich sagen, dass das Glas eher halb leer als halb voll ist. Aber immerhin interessieren sich inzwischen mehr junge Leute für Frauen- und Genderthemen.

Die Themen, zu denen Sie geforscht haben, waren also nicht immer akzeptiert?
Meine Forschung ist nicht Mainstream. Ich habe mich schon immer für Themen an den Rändern interessiert – etwa für die radikale Reformation und Paracelsus als Laientheologe. Als ich meinem Chef 1996 meinen ersten Aufsatz zum Thema „Geschlecht als historische Kategorie. Was leistet eine feministische Perspektive für die Kirchengeschichte?“ vorgelegt habe, habe ich dafür eins aufs Dach bekommen. Er sagte mir: „Wenn Sie so weitermachen, ruinieren Sie Ihre Karriere.“ Aber ich habe trotzdem weitergemacht. Es ist toll, die Freiheit der Forschung zu haben, also ein Thema selbst wählen zu können. Über Frauen- und Genderforschung wollen die kirchenhistorisch Forschenden bis heute nicht diskutieren. Der Kanon der Theologen – und eben nicht Theologinnen –, über die geforscht wurde, und der bekannten Quellen hat sich seit Jahrzehnten nicht verändert.

Mussten Sie auch Einschränkungen akzeptieren?
Mir wurden reihenweise Anträge, die ich bei Forschungsförderungsorganisationen zu Frauenthemen eingereicht habe, abgelehnt. Ich habe es irgendwann aufgegeben und akzeptiert. Wobei ich mir manchmal schon gewünscht hätte, dass man mir ein bisschen mehr auf die Schulter klopft für das, was ich mache. Aber es war mir schon immer ein Anliegen, eine Kirchengeschichte zu erzählen, die inklusiv ist. Von dem Weg habe ich mich nie abbringen lassen.

Originalveröffentlichungen

Veröffentlichungen über die Diakonissen:

  • Ute Gause: Den Pastoren leistet Ehrerbietung und Gehorsam, in: Vicco von Bülow (Herausgeber), „Modell“ Volkskirche? Ein Jahrhundert im Wandel. Strukturen, Praxis, Perspektiven, Luther-Verlag, Bielefeld 2022, S. 89–102, ISBN: 9783785808641
  • Ute Gause: „Diakonische Sonderwelt“ oder Ist Diakonie Kirche? Ein Blick ins 19. Jahrhundert, in: Evangelische Theologie, 2022, DOI: 10.14315/evth-2022-820205
  • Ute Gause: Töchter Sareptas. Diakonissenleben zwischen Selbstverleugnung und Selbstbehauptung, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2019, 296 Seiten, ISBN 9783374061921

Der im Interview erwähnte Zeitschriftenaufsatz ist:

Ute Gause: Geschlecht als historische Kategorie. Was leistet eine feministische Perspektive für die Kirchengeschichte? Ein Diskussionsbeitrag, in: Anselm Doering-Manteuffel, Kurt Nowak (Herausgeber): Kirchliche Zeitgeschichte: Urteilsbildung und Methoden, Kohlhammer, Stuttgart 1996, ISBN: 9783170139275

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Veröffentlicht

Montag
03. April 2023
09:08 Uhr

Dieser Artikel ist am 1. Juni 2023 in Rubin 1/2023 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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