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Stochastik-Lernprogramm mit eingebauter Nachhilfe
Nicht nur im Mathematikstudium, sondern auch in zahlreichen anderen Fächern müssen sich Studierende ein Grundwissen in Stochastik aneignen. Um sie dabei zu unterstützen, entwickeln Mathematikerinnen und Mathematiker der RUB mit Kolleginnen und Kollegen aus Düsseldorf und Siegen ganz besondere digitale Lehrmaterialien. Was diese von anderen unterscheidet, erläutern Prof. Dr. Herold Dehling, Inhaber des Lehrstuhls für Wahrscheinlichkeitstheorie und ihre Anwendungen und Dr. Michael Kallweit vom HDM@RUB – Zentrum für Hochschuldidaktik Mathematik im Interview.
Herr Prof. Dehling, Herr Dr. Kallweit, was ist Ziel Ihres Projektes?
Herold Dehling: Wir entwickeln frei verfügbare Lehrmaterialien als Open Educational Resources (OER), die möglichst breit eingesetzt werden können. Darunter sind Stochastik-Aufgaben, Grafiken, mit denen die Studierenden experimentieren können, und Lehrvideos. Sie kommen dann auf eine interaktive Lernplattform, die sich gerade im Aufbau befindet, das Open Resource Campus (ORCA) NRW-Portal.
Drei Viertel der geplanten 100 Materialien sind eigentlich fertig.
Die Materialien sollen die bestehende Lehre ergänzen. Aus ihnen können Studierende und Lehrende sich selbst zusammenstellen, was sie benötigen. Dafür legen wir kleinere Lerneinheiten an. Wenn zum Beispiel jemand etwas über die Theorie statistischer Tests lernen möchte, gibt es dafür ein kleines Paket mit verschiedenen Lehrmitteln. Daraus können sich die Studierenden das entsprechende Gebiet allein erarbeiten. Auch für bestimmte Lehrveranstaltungen stellen wir Materialien zusammen.
Ist schon etwas nutzbar?
Dehling: Drei Viertel der geplanten 100 Materialien sind eigentlich fertig. Den letzten Schliff möchten wir ihnen noch geben, bevor wir sie auf ORCA hochladen. Aber Kolleginnen und Kollegen können sie gern schon für das Sommersemester verwenden.
Was können ihre Übungsaufgaben, was andere Lehrprogramme nicht können?
Michael Kallweit: Einfache Schulaufgaben wie „Löse die Gleichung“ digital zu stellen, funktioniert schon lange in fast allen Learning-Management-Systemen. Wir nutzen ergänzend das freie Moodle-Plugin STACK (System for Teaching and Assessment using a Computer algebra Kernel). Dies ermöglicht es uns, auch offene Fragestellungen digital abzubilden, wie: „Gib ein Beispiel für eine Gleichung mit der folgenden Lösung“. So kommen wir an ganz andere Kompetenzlevel heran.
Mit STACK ist auch die Möglichkeit hinzugekommen, Aufgaben mit zufälligen Elementen in den Aufgabentexten zu stellen und individuelle Rückmeldungen zu geben. So erhält jeder Studierende eine andere Aufgabenvariante und bekommt trotzdem eine genaue Rückmeldung, was an seiner Lösung richtig ist und was nicht.
Wie genau läuft es, wenn Studierende in Moodle eine Ihrer STACK-Aufgaben lösen?
Dehling: Er oder sie bekommt einen Aufgabentext und gibt eine Lösung ein. Wenn sie korrekt ist, kommt das Feedback „Super gemacht“. Ist sie falsch, bekommt der Studierende eine Hilfestellung – adaptiert an die Stelle der Aufgabe, an der das Problem auftrat. Diese leitet ihn oder sie Schritt für Schritt zur richtigen Lösung. So wie es auch eine Kursleiterin oder ein Kursleiter machen würde.
Kallweit: Ein weiterer Vorteil gegenüber anderen Systemen ist auch, dass Studierende in diesem Aufgabentyp eine direkte Rückmeldung erhalten, wenn sie bei der Eingabe syntaktische Fehler gemacht haben, zum Beispiel vergessen haben, eine Klammer zu schließen – und das, bevor die Aufgabe bewertet wird. In vielen anderen Systemen bekommen sie dann einfach null Punkte.
Herr Kallweit, Sie waren so begeistert von STACK, dass Sie es vor Jahren sogar ins Deutsche übersetzt haben und nun die Software sogar selbst erweitern. Was hat Sie dazu veranlasst?
Kallweit: Als ich STACK entdeckt hatte, war mir recht schnell klar, welches Potenzial dahintersteckt. Wir nutzen STACK nun schon seit vielen Jahren sehr erfolgreich. Aber natürlich kann STACK auch nicht alles. Was mich beispielsweise schon immer gestört hat, war, dass im Lernsystem Moodle innerhalb eines Tests die Aufgaben nicht aufeinander reagieren können.
Ob jemand eine Aufgabe gut oder schlecht bearbeitet hat, hat keinen Einfluss darauf, welche Aufgabe als nächstes kommt. Ich hatte die Idee, diese Funktionalität direkt in STACK zu integrieren. Mit etwas zusätzlichem Programmcode können jetzt STACK-Aufgaben auf verschiedene Eingaben unterschiedlich reagieren und sich adaptiv anpassen.
Dadurch ist es uns möglich, innerhalb einer Aufgabe Schleifen zu gehen oder je nach Bedarf des Nutzers Unteraufgaben mit hineinzubringen. Damit lassen sich ganz neue Lernszenarien schaffen: In sogenannten tutoriellen Aufgaben können die Nutzer adaptiv bei der Bearbeitung von komplexeren Aufgabenstellungen an die Hand genommen werden. Da die entsprechende Programmierung innerhalb von STACK steckt, sind die Aufgaben kompatibel mit verschiedenen digitalen Lernsystemen wie zum Beispiel Moodle und ILIAS.
Was müssen Dozierende alles bedenken, wenn sie so eine Aufgabe erstellen?
Dehling: In der Aufgabe ist ein ganzer Baum an möglichen falschen Antworten hinterlegt. Die Herausforderung besteht darin, dass man sich überlegen muss, an welcher Stelle Studierende Probleme haben könnten und wo welche Hilfestellungen sinnvoll sein könnten, damit er oder sie am Ende selbst auf die richtige Lösung kommt.
Hat das Programm auch Vorteile für die Dozentin oder den Dozenten?
Kallweit: Für uns ist schön, dass wir vom Programm eine Statistik darüber bekommen, welche Aufgabenteile die Studierenden gut lösen konnten und an welchen Stellen sie scheitern. So können wir die Aufgaben nachbessern und in der Vorlesung noch mal auf die Probleme eingehen. Oder in der Klausur eventuell nachvollziehen, wenn eine Aufgabe fast komplett richtig gelöst wurde, obwohl das Ergebnis nicht stimmt. Dann können wir dafür doch noch ein paar Punkte geben. Das hat auch sehr zur Akzeptanz seitens der Studierenden beigetragen.
Was kann STACK noch?
Kallweit: STACK liefert noch eine Funktion für Abbildungen und interaktive Anwendungen mit JSXGraph. Zum Beispiel kann ich damit automatisch zur Lösung passende Grafiken anzeigen lassen.
Dehling: Insbesondere interaktive Anwendungen – ob in STACK als Feedback realisiert oder als eigenständiges Material – ermöglichen es den Studierenden, eigene Experimente durchzuführen. Innerhalb der interaktiven Anwendung können sie bestimmte Parameter verändern und beobachten, wie sich daraufhin die Abbildung verändert.
In der interaktiven Anwendung „Zufall folgt Gesetzmäßigkeiten“ wollen wir den Studierenden vermitteln, dass auch der scheinbar regellose Zufall bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterliegt, die wir mit statistischen Verfahren erschließen können. Wenn ich zum Beispiel einen fairen Würfel einmal werfe, so ist der Ausgang komplett unbestimmt.
Wir müssen keine Rechenmaschinen ausbilden. Es geht ums Verstehen, darum dass jemand in der Lage ist, Dinge beurteilen zu können.
Werfe ich hingegen wiederholt, so nähert sich die mittlere Augenzahl gemäß dem Gesetz der großen Zahlen dem Erwartungswert, bei einem fairen Würfel also 3,5. Bei zehn Würfen kann man die Wirkung des Gesetzes der großen Zahlen noch nicht gut erkennen; hier habe ich noch eine große Varianz. Bei 1.000 Würfen hingegen komme ich sehr nahe an 3,5 heran. Wenn man mit der Anzahl der Würfe spielen kann und bei jeder Eingabe sieht, wie sich die entsprechende Kurve ändert, kriegt man ein ganz anderes Gefühl für die Sachverhalte.
Wer profitiert am meisten von diesen Möglichkeiten?
Kallweit: Gerade bei Studiengängen, in denen man das mathematische Handwerkszeug zwar braucht, dieses aber nicht das Berufsziel ist, finde ich es sehr wichtig, solche Möglichkeiten zu schaffen. Dafür haben wir auch durchweg positives Feedback bekommen. Wir müssen keine Rechenmaschinen ausbilden. Es geht ums Verstehen, darum dass jemand in der Lage ist, Dinge beurteilen zu können. Das ist ein ganz wichtiger Punkt bei der Mediennutzung. Diese Geräte machen auch mal Fehler. Ich freue mich immer, wenn ich Fehler in einem Programm finde. Das sehe ich als Motivation an, um zu sagen: „Guckt mal, wir brauchen doch noch Menschen, die nachdenken und nicht alles einfach nur blind hinnehmen“.
Herr Kallweit, im Projekt werden auch Lehrvideos hergestellt. Haben Sie diesbezüglich Tipps für Kolleginnen und Kollegen?
Kallweit: Das Wichtigste am Video ist, ein gutes Mikrofon zu verwenden und die Erkenntnis, dass man bei einem Video kein perfektes Ergebnis braucht. Videos sind die aufwendigsten Materialien. Bis eins perfekt ist, kann es Monate dauern.
Ein sehr niedrigschwelliger Einstieg ist es, schon vorhandene Videos mit eigenen Anmerkungen anzureichern. Man kann zum Beispiel einen Stopp einbauen oder einen Kommentar einfügen. So können Videos auch genutzt werden, wenn man mit deren Inhalt nicht an jeder Stelle einverstanden ist.
Wichtig ist zu wissen, welche Möglichkeiten zur Nutzung vorhanden sind. Auf den Seiten des Bereichs eLearning an der RUB finden Dozierende, die das noch nie gemacht haben, gute Empfehlungen. Goldstandards für OER-Videos finden Sie hier. Auch bei OpenRUB kann man sich mal umsehen.
Wie testen Sie Ihre Materialien?
Dehling: Für die Evaluation ist unsere Kollegin Prof. Dr. Katrin Rolka, Inhaberin des Lehrstuhls „Didaktik der Mathematik“ der RUB, zuständig. Im Vorfeld haben wir in einer Usability-Studie 20 Studierenden Aufgaben vorgelegt, beobachtet, wie sie daran arbeiten, und danach ausführliche Interviews mit ihnen geführt.
Anschließend kam die Evaluation in Gruppen von mehreren hundert Studierenden, die über einen Fragebogen lief. Als Ergänzung zum Fragebogen konnten individuelle Aufgaben per Sternebewertung benotet werden. In einem Textfeld hatten die Studierenden auch die Möglichkeit, Eindrücke, Verbesserungsvorschläge und Wünsche zu äußern. Diese flossen dann in die weitere Entwicklung ein. Zurzeit dürfen Mathematikstudierende an allen beteiligten Unis die Materialien testen. In Bochum sind zudem Studierende aus Maschinenbau, Bau- und Umweltingenieurwesen dabei.
Welche Hürden gab es bei der Durchführung des Projektes?
Kallweit: Natürlich ist die Erstellung der Materialien anspruchsvoll, gerade bei dem hohen inhaltlichen und didaktischen Anspruch. Aber die größte Hürde war, dass wir die Förderung bekommen haben, als das ORCA-Portal noch nicht existiert hat und daher Vorgaben fehlten. Da ging es um Feinheiten, die aber wichtig sind: Wie muss die Verschlagwortung aussehen? Brauchen die Videos Kapitelmarken? Was wir ein bisschen unterschätzt haben, war der Aufwand beim Herstellen der Videos.
Was sind die Stärken Ihres Projektes?
Dehling: Unsere große Stärke liegt in der Verbindung der didaktischen Expertise der Arbeitsgruppe von Katrin Rolka und des HDM@RUB – Zentrum für Hochschuldidaktik Mathematik mit der fachwissenschaftlichen Kompetenz der Stochastiker der RUB, der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf und der Universität Siegen. Besonders bereichernd finde ich, dass es da an den verschiedenen Standorten auch mal unterschiedliche Sichtweisen gibt.
Das Projekt OER.Stochastik.NRW wird gefördert durch ORCA.nrw, das Landesportal für Studium und Lehre.
Ihre reichhaltigen Erfahrungen in der Erstellung von digitalen Lehrmaterialien möchten die Forschenden nun auch in das Nachfolgeprojekt „DigStat – Digitale Lerneinheiten in der Statistik“ einfließen lassen. Den entsprechenden Förderbescheid von OERContent.nrw überreichte ihnen der Staatssekretär vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, Dr. Dirk Günnewig, sogar persönlich.
… es 30 frei nutzbare Musikstücke für edukative Videos gibt? Das Landesportal ORCA.nrw hat die sogenannten OER Tracks gemeinsam mit der Fachhochschule Dortmund als Mixtape veröffentlicht, finanziert von der Digitalen Hochschule NRW. Hintergrund: Lehrende haben immer Schwierigkeiten, Musik für OER zu finden – beim Thema Musik wird die Verwertungsgesellschaft GEMA hellhörig.
3. Mai 2022
09.55 Uhr